Pavel Kohout
Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel

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Wiener Zeitung

Wiener Zeitung
Sa./So., 4./5. Juni 2011

Presseartikel

Gerda gleicht Goliath gepaart mit Gepard…

Dieser Titel soll eine Grabinschrift sein. Ich bin ein Einzelkind. Und trotzdem ist jetzt in Wien meine Schwester gestorben.

Als uns das Schicksal in Gestalt der Husák´schen Grenzsoldaten im Jahre 1979 nach Österreich verschlug, hatten wir dort viele Verbündete, aber keinen Freund. Damals tauchte SIE auf unserer Lebensbühne auf. Die rechte Hand des bekannten österreichischen Architekten Roland Rainer, immerwährend schlank und von einer besonderen Schönheit, wie sie Frauen der Intellekt verleiht, lernte in seinem Atelier zuerst meine Schwägerin kennen, eine der ersten Unterzeichnerinnen der Charta 77, und diese führte sie zu uns. Als wenig später auch mein Sohn und seine Frau und sein Sohn aus demselben Grunde die ČSSR verlassen mussten, wurde sie zur ersten Reiseleiterin der Tschechen im Irrgarten eines zwar demokratischen Landes, das allerdings umso mehr auf der Einhaltung von Gesetzen, Bräuchen und Regeln basierte.

Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie mit einem durchdringenden Alt und einer nie erschöpfenden Energie ausgestattet. Sie erinnerte an die Barrikadenkämpferin auf dem Bild von Delacroix, doch war sie nie Revolutionärin oder Emanze, sie schien nur geboren worden zu sein, um ihren Nächsten zu helfen – ob es ihnen nun gefiel oder nicht! Dieser Zusatz mag vielleicht wie eine Missachtung klingen, doch sie konnte einfach jemanden, der sich durch sein Schicksal brechen ließ, nicht ausstehen, und manch einen rüttelte sie schroff aus der Gleichgültigkeit eines Geschlagenen zu Courage auf.

Ihre praktische Hilfe kannte keine Grenzen. Als ich mich entschloss, die deutsche Fassung des Romans vom begrabenen Hund wesentlich zu ändern, borgte sie sich diese dreihundertfünfzig Seiten, von überklebten Stellen, Streichungen und Nachträgen verunkrautet, sie wolle diese im Urlaub lesen. Vierzehn Tage später brachte sie eine saubere, druckreife Abschrift vorbei. Sie hatte nach Scharm al Scheich zusammen mit dem Badeanzug auch eine Schreibmaschine mitgenommen und acht Stunden pro Tag den Text abgetippt.

Als Rainer aufhörte zu arbeiten, war sie lange Zeit ohne Arbeit, wenngleich sie Ideales zu bieten hatte, denn sie war geschieden, kinderlos und beherrschte neben der deutschen Stenographie auch noch die englische, doch es waren junge Busenwunder in Mode. Ich schrieb für sie Inserate und Empfehlungen, doch vergebens, für alle war sie zu alt, bis sie, als sie in brillanter Art und Weise den zehnten Jahrestag der Charta in Wien organisiert hatte, Karel Schwarzenberg begegnete. Er hatte gerade eine weitere Nutzlose entlassen und stellte sie „als Vertretung“ ein. Er hatte Glück, dass er sie gleich am ersten Tag bitten musste, seine Reise in die Schweiz zu stornieren, denn in der Nacht hatte man ihm samt Geld auch die Papiere, Flugtickets und Geldkarten gestohlen. Am Abend flog er wie vorgesehen, da sie ihm für alles Ersatz beschafft hatte. Ab diesem Tag bis zum vergangenen Samstag war sie Direktorin der fürstlichen Büros. Nachdem sie dies geworden war, sprach sie eine Bitte aus, der er entgegen kam: bei der nächsten Festlichkeit im Palais stand sie neben ihm und bekam Handküsse von den Bossen, die sie vorher abgelehnt hatten. Unrecht zahlte sie nur mit Witz und Charme heim.

Als Václav Havel in Prag seinen fünfzigsten Geburtstag feierte, schickten wir sie von Wien aus mit einem Koffer voller Käse zu ihm. Sie wirkte so souverän, das die Leute von der Staatssicherheit nicht einmal einen Ausweis von ihr verlangten. Als der eiserne Vorhang fiel, lernte sie innerhalb weniger Wochen recht ordentlich Tschechisch. Die Ärzte schickten den neuen Präsidenten zu einer Kur nach Deutschland, damit er sich vom Gefängnis und vom Dissent erhole. Unter einem Decknamen war er einen Monat zur Kur, und weil er niemanden von seinem Büro dabei hatte und keiner vom Personenschutz deutsch konnte, war sie bei dieser geheimen Mission die einzige Verbindung zur unbekannten Umgebung. Eine Woche später auf der Burg erkannte er sie schon nicht mehr. Sie entschuldigte ihn ganz in ihrem Stil – Er hat wohl Wichtigeres zu tun… 

Ihre Leidenschaft war es, Talente zu entdecken und diese auf die Umlaufbahn zu befördern. Mindestens ein Dutzend - Maler, Musiker, eine Schauspielerin und ein Dirigent, verdanken ihren gelungenen Start der Tatsache, dass sie sie ermunterte, propagierte und von ihrem Gehalt unterstützte, das angesichts dessen, dass sie für drei arbeitete, nicht berauschend war. Legendär waren die Geburtstagsfeiern ihrer Freunde, bei denen sie zu einer Regisseurin immer wieder anderer Überraschungen mutierte. Ich wollte meinen Sechzigsten  allein mit meiner Frau feiern. Sie organisierte für uns ein Hotelzimmer im Kloster Geras, wo dann fast alle Freunde aus Europa auftauchten und Abt Angerer mir einen ökumenischen Gottesdienst bescherte.

Ihre absolute Loyalität und Nähe zum Fürsten erweckten bei dessen Beamtenschaft in Österreich und in Deutschland Unwillen, umso mehr als diese von Leistung unterlegt waren, an die die Neider nicht herankamen und es auch nicht wollten, denn der Fürst war ebenfalls bekannt für sein Vertrauen in geschickte Parasiten. Die „Schwarzenbergischen“ hatten zu ihren Obrigkeiten traditionell eine gute Beziehung, weil diese ihre Leute achteten. Auch der letzte Wildhüter wurde nach einem Vierteljahrhundert Dienst ins Schloss Murau geladen, um vom Fürst persönlich eine Auszeichnung für treue Dienste entgegenzunehmen. Ihr schickte das bestehende Management die Anerkennung per Post. Es war wohl das einzige Mal, als ich bei ihr Tränen sah, die sie schnell mit dem trockensten aller Grünen Veltliner trocknete.

Gezeichnet von Krankheiten, Krieg und Pubertät habe ich mich in meiner Jugend nach einem Geschwisterkind gesehnt, dem ich alle meine Träume und Ängste anvertrauen könnte. Als ich das Gewünschte in ihr gefunden hatte, erklärte ich sie zu meiner „späten Schwester“, der auch die deutsche Ausgabe meiner Autobiographie gewidmet ist. Wir bewerteten unsere als auch andere Leben mit der Gewissheit, dass bei uns beiden alle Geheimnisse enden. Deshalb werde ich nie ihre Erlebnisse aufzeichnen, die sicher ein Bestseller würden; ich lasse sie auf ewig in meinem immer noch funktionierenden Gedächtnis gespeichert bleiben.

Nachdem sie im Dezember begriffen hatte, dass ihr nur noch ein paar Wochen zu leben blieben, schaffte sie es noch, ihren langjährigen Freund zu heiraten und sich sämtliche leere Aufmunterung als auch eine prunkvolle Beerdigung zu verbieten. Sie wollte von ihm der Donau übergeben werden …

Zum Sechzigsten schrieb ich ihr eine Gratulation in deutscher Sprache, die vom Buchstaben G überquoll. Auf einer Seite waren es zweihundertzwanzig. Darin enthalten war auch der obige Titel. Meine späte Schwester Gerda Neudeck, in ihrem Fach ein Star, starb am Mittag des 22. 2. 2014. Doch wie Physiker bestätigen – auch tote Sterne strahlen weiter!

Aus dem Tschechischen Silke Klein

 

Pavel Kohouts 

271. Trilobit         

für die meistgelesene tschechische Tageszeitung Mladá fronta DNES 1. 3. 2014

 

 



Abschied von Wien

Für die später Geborenen: Im Jahre 1947 schlugen die unterernährten Hockeyspieler Österreichs – das als zwar erstes Opfer von Hitler, im weiteren Verlauf aber schon als dessen treuer Verbündeter erstmals seit dem verlorenen Krieg zu einer Weltmeisterschaft nach Prag reisen durfte – die favorisierten Schweden und verhalfen so den Tschechoslowaken zum Titel. Die begeisterten Fans förderten in Sonderschichten Kohle und schickten sie mit Kartoffelzügen den frierenden und hungernden Nachbarn. 

Österreich, das sich dank seiner herausragenden Politiker gegen die Stalinisierung zu wehren wusste, war durch den Marshallplan, den Stalin den Tschechoslowaken verwehrte, bereits 1956 in der Lage, Tausenden Ungarn, die nach dem blutigen Ende des antisowjetischen Aufstandes flohen, als Umsteige- oder sogar Endstation zu dienen. Bis zum Ende des Jahrhunderts half es Tausenden Tschechen und Slowaken nach der Invasion der Armeen des Warschauer Pakts, Tausenden Polen nach der Ausrufung des Ausnahmezustands und Tausenden Flüchtlingen aus Jugoslawien, das von einem Krieg aller gegen alle gebeutelt wurde. 

Unter Kanzler Kreisky wurde es auch für die Unterzeichner der Charta 77, seien diese freiwillig emigriert oder hierher vertrieben worden wie wir, zu einer neuen Heimat. Für diejenigen, die das Deutsch ausreichend beherrschten, war vor allem Wien ein echtes Zuhause, aufgrund seiner Geschichte, Architektur und der Art und Weise zu leben; ein wesentlicher Vorteil allerdings lag in der schon  Vierteljahrhundert funktionierender Demokratie. Die Exilanten kehrten deshalb nach dem politischen Urknall 1989 ohne die Illusion nach Hause zurück, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch Hindernisse wie die Schwächen der menschlichen Charaktere und die Last schlechter Angewohnheiten fallen würden, durch die der falsche Sozialismus zwei Generationen Tschechen geschädigt hat. In Österreich hatte man gelernt, dass man für Freiheit und Wahrheit ewig kämpfen muss, in welchem System auch immer.  

Im Unterschied zu den böhmischen Ländern, wo berühmte Stämme wie die Choden oder Hannaken nur eine langsam versiegende Spur des Wortschatzes, der Aussprache und der Folklore hinterließen, ist Österreich bis heute ein Sammelbecken mehrerer eigenständiger Völker, die sich für das Ohr durch Sprache, für den Geruchssinn und den Geschmack durch Küche und für das Auge sogar durch modernisierte Trachten unterscheiden. Gewaltsam vereint wurden sie durch die Monarchie und dann auch den schicksalhaften Bund mit Nazideutschland. Danach aber erlebten alle Österreicher das geschichtliche Glück, bei der Aufteilung Europas unter den Kriegssiegern das Statut eines neutralen Staates zu erhalten, das es ihnen ermöglichte, in die Gemeinschaft der freien westlichen Länder hineinzuwachsen. 

Als sich im Jahre 1989 die Grenzen öffneten, kehrten einige Exilanten nur halb nach Prag zurück. Sie empfanden es als eine Pflicht gegenüber dem Land, das sie in der Not aufgenommen hatte, den Heißhunger seiner Politiker, Wirtschaftsleute und Medien nach Informationen über die Tschechoslowakei und nach der Herstellung von Kontakten im Land zu stillen. Sie erwarteten, dass der österreichische Staat sein Integrationstalent anwenden und den neu erstandenen Nachbarn bei ihrer schwierigen Rückkehr nach Europa mit Tat und Rat helfen würde. Dies geschah jedoch leider nicht.

Nach Bruno Kreisky gab es keinen Politiker seines Formats mehr, und seine Nachfolger konnten sich lange nicht gegen die billigen Leidenschaften wehren, die von Populisten wegen Temelín und von Militanten aus den Sudeten wegen der Beneš-Dekrete gegen die Tschechen geschürt wurden; es drohte sogar das österreichische Veto gegen den Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union. Was in der Politik zerschlagen wurde, machten dann jedoch auf beiden Seiten die Bürger selbst vor allem dort wieder wett, wo sie im direkten Kontakt standen. Grenzstädte werden zu Nachbardörfern, es mehren sich grenzüberschreitende Eheschließungen, Taufen und Beerdigungen, hoffentlich wird es auch irgendwann dazu kommen, dass man sich gegenseitig Maibäume stiehlt…

Die selbsternannten Missionare, die zwanzig Jahre zwischen Wien und Prag pendelten, sahen ein, dass sie überflüssig waren. Und wenn jemand in Wien den Sohn mit seiner Frau und auch noch den Sohn des Sohnes zurücklässt, der bereits in der österreichischen Armee gedient und unter die Wiener eingeheiratet hat, darf er hoffen, dass er wirklich stark verbunden bleibt. Husáks Husaren haben uns gewaltsam nach Österreich gebracht, somit riefen sie statt Wehmut gesunde Wut hervor. Der Weggang aus Österreich ist freiwillig, somit ist Wehmut erlaubt.

Vor fünfunddreißig Jahren, als uns das Schicksal dahin verschlug, trug die Stadt an der Donau noch die Spuren des Krieges, und das Zentrum, wo wir wohnten, erinnerte uns an den ehemaligen Prager Hradschinplatz in den Abendstunden, nur dass einsame Fußgänger dort oft von Polizisten legitimiert, während hier regelmäßig von Prostituierten angelockt wurden. Auf dem Kohlmarkt gab es einen Metzger, einen Friseur, ein Kolonialwarengeschäft, einen Buchhändler, einen Schuster und das altehrwürdige Cafe Arabia; heute teilt dieser Ort das Schicksal der Pařížská-Straße in Prag, alles Normale wurde ersetzt von  „FetzenFetzenFetzen“, Parfüms und Schmuck. Unter den Antiquitäten überlebte neben dem Demel auch der Gourmettempel Meinl; im Unterschied zu dem neuen in Prag, wo es einen Monat nach der Eröffnung zwei Verkäufer pro Kunde gibt, herrscht hier fast ständig Gedränge, denn die Preise sind nicht meilenweit von den Durchschnittsgehältern entfernt, und das Personal kennt seine Waren wie beispielsweise Käse nicht nur vom Sehen, sondern auch vom Geruch und Geschmack her. 

Die damalige Idylle ist so wie an der Moldau dahin, das Verschwundene wird jedoch von dem ausgeglichen, was Wien weiterhin unverwechselbar zu Wien macht. Optisch die ständig erneuerte Sauberkeit und die unzähligen Fiaker, die für die Einhaltung der dreißig Kilometer Stundengeschwindigkeit im Zentrum wirksamer sorgen als Polizisten. Das Wichtigste allerdings ist, dass die Donaumetropole nicht hetzt. Die Einheimischen bewegen sich hier im Tempo von Touristen, und die Mittagspause und das Arbeitsende werden hier direkt zelebriert in Cafés und Weinstuben, die überwiegend auch für die armen Raucher eingerichtet sind. Es ist ein Erlebnis, sowohl in berühmten Restaurants als auch an den Straßenwürstelständen zu speisen, im Vergleich mit Prag wird man so gut wie nie betrogen und bestohlen. Hunde sind überall willkommen, in den Geschäften werden sie an der Kasse geparkt. 

Beim vorweihnachtlichen Punsch im Stehen am Lions-Stand am Graben sahen wir in der Menschenmenge zwei Herren zu Meinl schreiten, und einer kam uns irgendwie bekannt vor. Hallo, Heinz! riefen wir versuchsweise, und beide kamen sofort zu uns herüber; der andere wartete dann ein Stück abseits, bis wir mit Heinz Fischer zu Ende geplauscht und er uns zum Abschied umarmt hatte. Das ist aber ein schöner Brauch, erachtete es meine Frau Jelena, dass, um sich von Tschechen zu verabschieden, sich selbst der österreichische Bundespräsident sogar hierher bemüht. Tu, felix Auastria…!

Dann verabschiedeten wir uns von niemandem mehr, den wir hier gern gehabt hatten. Sie sind uns ans Herz gewachsen, und so reisten sie nach Tschechien mit. 

Pavel Kohouts 266. Trilobit

für die meist gelesene tschechische Tageszeitung

Mladá fronta DNES

25.1.2014

Aus dem Tschechischen Silke Klein

 

 


Neue Züricher Zeitung - Standpunkte

http://www.nzz.ch/nachrichten/web-tv/standpunkte

Das Geheimnis von Weiden

Sehr geehrter Leser, lass dich nicht vom unschuldigen Beginn in die Irre führen, am Ende gelangen wir zum tschechisch-deutschen Krimi, zu einem Mord, der vielleicht keiner war und trotzdem einen Selbstmord auslöste.

Es war im Herbst 1965, als ein Team des Theaters in den Prager Weinbergen, das vorher einen überwältigenden Erfolg der Bühnenaufführung von Čapeks Roman Krieg mit den Molchen in Prag gefeiert hat, mit dem Autor nach Dortmund kam, um die deutsche  Fassung auf die Bühne des Schauspielhauses zu bringen. Die Abende verbrachte man in einer gemütlichen Kneipe, wo dem Dramatiker die Idee kam, das Stück August August, August zu schreiben. Vor der Prager Uraufführung verklagte ihn ein hoher tschechischer Funktionär, es habe ihn gekränkt, dass sein Name Holzknecht im Stück dem Zirkusdirektor zugewiesen wurde, der den Helden von Tigern zerfleischen lässt. Bis die Speisekarte belegte, dass dies der Name des Dortmunder Lokals gewesen war, in dem den Autor die Muse geküsst hatte. 

Im Herbst 2012 ist das Restaurant Holzknecht eines der besten im Ruhrpott, und der Dramatiker traf hier andere Landsleute, die zur vierten Reprise der Feierlichkeiten anlässlich des tschechischen Siebzehnten Novembers gekommen sind, an dem die „samtene Revolution 1989“ ausbrach. Die zweihundertköpfige Repräsentanz der Stadt hat die Botschafter der Tschechischen Republik in Berlin und Bern, Jindrák und Lazar, eingeladen, auf dass das Kulturprogramm eine politische Dimension erhalte. Für den auftretenden Autor, der als Junge die deutsche Okkupation und ihre grausamen Folgen erlebt hatte, war dieser Abend eine Bestätigung dafür, dass über die Traurigkeit ob der lächerlichen Kleinkriege tschechischer Politiker die Freude über den gesamten Kontinent siegt, dessen einstige Kriegsfelder jetzt nur friedliche Ernten hervorbringen.

Die Tschechen können mit Recht behaupten, dass trotz des Widerstands zweifelhafter Patrioten, für die sich auch die Nachkriegsmörder von Frauen und Kindern ausgeben, von nirgendwo mehr versteckte Leichen deutscher Zivilisten auftauchen können, was nichts an dem allgemeinen Konsens ändert, dass die Deutschen mit ihrem Verrat der demokratischen Republik und ihrem Wüten im Krieg ihre Aussiedlung „heim ins Reich“ selbst besiegelt haben. Um stete Untersuchung der Nachkriegsverbrechen kümmern sich tschechische Historiker, Journalisten, Politiker und Richter, und erwarten Gleiches von ihren deutschen Partnern. Und da sind wir bei dem Drama aus dem Jahre 1972.

Zehn junge Tschechoslowaken, die von dem hart prosowjetischen Regime wegen ihrer langen Haare und heißer Liebe zu westlicher Musik schikaniert wurden, hatten die Entführung eines Kleinflugzeuges auf der Strecke Marienbad – Prag eingefädelt. Damals war es nicht schwer, eine Pistole an Bord zu schmuggeln, und mit ihr zwang der zweiundzwanzigjährige Student Adamica den Flugkapitän Mičica zu einer Richtungsänderung. Im engen Cockpit kam es zum Gerangel, bei dem der Pilot durch einen Schuss ums Leben kam. Nach der Landung bei Weiden nahm die bayerische Polizei die Gruppe fest. Im Protokoll, das unmittelbar angefertigt wurde, stand, dass die Bahn der Kugel vom Hals aus nach unten verlief, und der Täter wurde deshalb als Mörder bezeichnet. Die tschechischen Medien nutzten dies zu einer Massenkampagne gegen die Opposition und Fluchtwillige im Besonderen. Die deutschen Medien schlossen sich wegen der erdrückenden Beweislast an. Statt des Ruhmes, den die Freiheitssuchenden normalerweise erfuhren, wurden diese Flüchtlinge als Luftpiraten gebrandmarkt und erhielten hohe Strafen. Im verzweifelten Brief schwor der Student, der die Waffe gehalten hatte, den Eltern, er habe nicht geschossen - und hat sich in seiner Zelle erhängt.

Doch der Fall lebte nach vierzig Jahren wieder auf, als der junge tschechische Initiator des Projektes „Gedenkstätte tschechoslowakischen Exils“, Petr Vrána, überprüfen wollte, wer die Entführer waren und wie ihr Schicksalsflug verlaufen war. Es stimmte nur, dass sie zur damaligen Szene der „Máničky“, der tschechischen Vor-Hippies, gehörten, wo auch Drogen im Spiel waren. In drei Jahren akribischer Suche wurden Beweise gefunden, dass alles Übrige anders gewesen war. Der Forscher ergänzte sie um eine neue Expertise tschechischer Kriminalisten und stellte sie im Frühjahr dieses Jahres in der Prager Galerie DOX aus. Darauf tauchte in den Archiven auch das bisher geheim gehaltene Obduktionsprotokoll aus Prag auf, und hier beginnt der echte Krimi:

Aus diesem Bericht geht das genaue Gegenteil der Behauptung seitens der bayerischen Organe hervor, nämlich: die Kugel hatte den Hals des Piloten nicht von oben durchschlagen, sondern sie war von unten nach oben geflogen, als der Kapitän versuchte, den Entführer zu entwaffnen, was wieder Abschlürfungen auf seiner Hand bewiesen; dabei hatte sich der Schuss gelöst!

Deswegen war es vielleicht kein Mord, sondern ein Totschlag, an dem der mutige Pilot einen tragischen Anteil hatte.

Es erscheint deswegen ungewöhnlich, dass die Weidener Justiz schon nach der vorläufigen Obduktion und vor dem Ende aller Verhöre sogar das Wort „Hinrichtung“ verwendete.

Es erscheint seltsam, dass der Leichnam und das Flugzeug gleich am anderen Tag in die ČSSR zurückkehrten, in Weiden jedoch die Uniform des Piloten und Gewebeproben von angeblichen Eintritts- und Austrittsstellen des Projektils zurückblieben, die den tatsächlichen Hergang der Tat hätten belegen können, was allerdings in der Verhandlung nicht passierte.

Und es erscheint verdächtig, dass der bayerische Oberstaatsanwalt Meier so eng mit der Prager Staatssicherheit zusammenarbeitete, dass in der Anklageschrift Charakteristika der Abzuurteilenden aus den tschechischen Medien auftauchten, bis hin zu der Formulierung „sie sind geflohen, um auch im Westen ihr ungezügeles Leben führen zu können.“

Einem Zeitzeugen, der die Unterlagen liest, drängt sich eine Erklärung auf: Nur vier Jahre nach der Niederschlagung des politischen „Prager Frühlings“ können wenig informierte Bayern immer noch Gustáv Husák als Krisenmanager betrachtet haben, dem man nicht Probleme machen durfte; und die tschechischen Langhaarigen haben sie vielleicht genauso empört wie ihre eigenen, die in diesen Jahren gegen das politische System des Westens rebellierten. Ganz sicher muss jetzt geklärt werden, ob im demokratischen Westdeutschland in diesem Fall, der so viele Leben aus der Bahn geworfen hat, die Wahrheit nicht zur Lüge umgedichtet wurde, auch wenn dies in einem „höheren Interesse“ erfolgt sein mag. Auf konkrete Fragen des Faktensammlers haben es die bayerischen Behörden unter Berufung auf den Datenschutz abgelehnt zu antworten.    

     Dieser Text geht deshalb in deutscher Fassung gleichzeitig an Seine Exzellenz den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Prag mit der Bitte ihn den richtigen Stellen zuzuleiten. Also: Fortsetzung folgt!

 

Aus dem Tschechischen übersetzt von Silke Klein   

Pavel Kohout 19. 11. 2012 für Mlada fronta DNES


"Nach Freiheit sehnt sich nur, wer sie nicht hat"

Wiener Zeitung | Sa./So., 4./5. Juni 2011 | Eva Stanzl

Der tschechische Schriftsteller Pavel Kohout blickt auf das 20. Jahrhundert zurück, lobt die derzeitige Europäische Union im Vergleich mit den kommunistischen Systemen und denkt über die politische Funktion der Literatur nach.

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Ach, Václav

jetzt  ist vor dir der lezte aller Vorhänge gefallen, jener aus Eisen, der am Ende einer Vorstellung schon nicht mehr hoch geht, aber die Bravo- und Buhrufe haben erst begonnen und werden nie verstummen, wie dem so ist im „theatrum mundi“, dem Theater der Welt. Das Stück, das Du gerade zu Ende verfasst hast - Dein Leben - ist wie vom Meister Aristoteles geschrieben. Die Exposition: Ein Kind, das nichts darf. Die Kolision: Ein Bursche, der alles will. Die Krise: Ein junger Mann, der gehasst wird. Die Kollision: Ein reifer Mann, der geliebt, aber trotzdem auch gehasst wird. Und die Katastrophe? Beflissene Theatermenschen wissen, dass die antiken Katastrophen gar nichts mit den normalen Pleiten und Debakeln des täglichen Lebens zu tun haben. Über den Ausmaß und den Wert einer antiken Katastrophe, über die Schuld und Sühne eines jeden Protagonisten entscheidet ausschließlich die Katharsis, das summa summarum von allem, was er gelebt, gedacht und getan hat, und dadurch die Erkenntnis der absoluten Wahrheit. Mit diesem Urteil stürzen dann die Götter den Verbrecher in ewige Verderbnis oder aber sie heben ihn als Held auf den Olympos empor.

Den normalen Zuschauern ist eine beliebige Katharsis egal, sie beurteilen die Figuren auf welch immer einer Bühne spontan und deswegen sehr oft ungerecht. Ein schlauer und eitler Stardarsteller kann es dadurch verhindern, dass  er  aus dem Spiel in jener Phase aussteigt, wenn ihm die Gunst der Handlung den Heiligenschein verleiht, damit er sich ewig feiern lassen kann. Nach Dir hat der Tod mehrmals die Hand ausgestreckt. Hättest Du auf ihre Warnung gehört und sich wie der erste Präsident der Tschechoslowakei Masaryk ins Private zurückgezogen mit der Botschaft, „Ich werde zuschauen, wie ihr das weiter führt“, wärest du höchstwahrscheinlich noch am Leben und sicherlich der Liebling aller jener geblieben, dessen Parole heißt „Ich sage weder das noch jenes, aber auf meine Meinung kommt es an“. Gleich wie Cyrano de Bergerac hast Du Dir bis zum letzten Akt mit dem Degen das logische Recht behalten, bei Abwehrkämpfen auch daneben zu stechen. Deswegen hast Du nie aufgehört ein normaler Mensch aus Fleisch und Blut zu sein und so werden auch Deine unverfälschten Denkmäler danach erkannt, dass ihnen der Menschengeruch nicht wegparfümiert wurde.
Wahre Freunde kennen echte Helden ohne Rüstung, auch in den Augenblicken ihrer Müdigkeit oder Skepsis, aber umso mehr wissen sie sie deswegen zu schätzen. Das galt für unseren treuen Freund und Mitstreiter Jiri Grusa, der uns nur sechs Wochen vor Dir verlassen hat, und das wird auch für Dich gelten. Havel, der Kämpfer, Havel, der Hasardeur, Havel, der Kritiker,  Havel, der Ironiker, Havel, der „Kumpan aus dem nassen Viertel“, Havel, der Herzensbrecher, je schüchterner, desto erfolgreicher, Havel, der natürliche Alfa-Platzhirsch in Liebe, Kunst und Politik, dieser Havel, ein geborener Sieger, hatte seinen eigenen Gegenfüßler, der ihn ununterbrochen begleitete: das war der unsichere und zerstreute Havel, der traurige Havel, der oft zweifelnde und ratlose Havel, ja, auch der verzweifelte Havel, geplagt von Gewissenbissen nach seiner ärgsten Niederlage, als er sich im Gefängnis von den Staatssicherheitsleuten überzeugen ließ, dass die Charta 77 inzwischen total zerschlagen wurde, ihr harter Kern kapitulierte, und dass er, falls er nach wie vor ihr erster Sprecher verbleibt, alle jene am Gewissen haben würde, die im Glauben an ihn ihren vergeblichen und selbstvernichtenden Kampf fortsetzen werden.
In der ersten Minute nach Deiner Entlassung, als Deine Frau Olga Dich vom Knast abholte und darüber informierte, dass trotz wilden Drohungen und Schikanen kein einziger von den zwei hundert zweiundvierzig Erstsignatare seine Unterschrift der Erklärung der Charta 77 zurückgezogen hat, ist Deine innere Welt zusammengebrochen, weil Du den Lügnern auf den Laim gegangen bist und die Schlüsselfunktion wirklich niedergelegt hast. Jedoch in der selben Nacht noch in unserem Sommerhaus, wohin Olga Dich chauffierte, hast Du Deinen Widerruf entschieden widerrufen und allen in Prag arbeitenden westlichen Korrespondenten persönlich per Telefon mitgeteilt, dass Du das riskante Amt des Charta 77-Sprechers nach wie vor inne hast; dadurch hast Du Dir alle weiteren Jahre in Kriminalen in voraus gesichert.
Deinen Freunden ritzte sich damals ins Gedächtnis, dass gerade dies der entscheidende Moment war, der aus Dir den definitiven “Einheitshavel“ geschmiedet hat, der dann später voll verdient das Recht bekam, das Ehrenamt des ersten Präsident der wieder freien Republik anzustreben, weil Dein ehrwürdiger Gegenkandidat, Alexander Dubcek, von seiner Unterschrift der Moskauer Kapitulation 1968 und des Knüppelgesetzes 1969  belastet wurde.
Zuvor musstest Du jedoch noch zwölf Jahre ausharren, und Deine Kampfart brachte die Prätorianer der Macht zum Verzweifeln. Immer wieder traf jeder neue Ermittler an einen stillen, korrekten, gut erzogener Mann, der wie ein Nüsschen aussah, das zu knacken keine große Mühe kosten würde. Und immer wieder mussten sie alle feststellen, dass seiner inneren Härte kein Nussknacker gewachsen war. Deswegen musstest Du mehr als einen Drittel der verbleibenden Zeit hinter den Gittern verbringen, wo Du zum ersten Mal fast gestorben bist. Nur ein heftiger Protest des führenden Trios der Sozialistischen Internationale, Brandt-Kreisky-Palme, hat erzielt, dass man Dich entlassen hat in der Hoffnung; du würdest im zivilen Krankenhaus sterben. Du aber solltest dann noch zweimal die Kraft haben, dem sicheren Tode zu entrinnen…
In der Rolle des Staatsoberhauptes hast Du in den folgenden zwölf Jahren wie kein anderer Künstler auf der Welt erfahren, dass nicht nur Kunst und Liebe, aber auch die Macht, und sei es eine demokratische, eine gefährliche Zauberin ist, die einen verführt aber dann kein Erbarmen kennt. Die Herrscher behaupten gerne, dass sie sich ihrem schweren Amt opferten, aber es ist meistens nur eine Zwecklüge. Dir habe ich es geglaubt. Deiner ganzen inneren Veranlagung nach warst Du immer ein Rebell, und jetzt wurdest Du über Nacht zur Obrigkeit. Dissident und Präsident, das lässt sich unmöglich auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Diese zwei antagonistischen Denk- und Vorgangweisen mussten Dich tagtäglich quälen, zwei riesigen Erdplatten ähnlich, die aufeinander drücken, bis ein tödliches Tsunami entsteht. Du wurdest durch Bodyguards abgeschirmt, in Schwärmen wie Flöhe sprangen Dich die Arschkrieger an, Deine alten Freunde nahmen es zur Kenntnis und haben Dich weiterhin als Präsident und als Mensch gern gehabt, während Feinde Deine Lebensparole – Wahrheit und Liebe werden Hass und Lüge besiegen! - in den Dreck zogen, Dich abschätzig einen Wahrliebhaber (pravdoláskař) nannten und sich so als Hasslügner geoutet  haben. 
Jetzt werden sie Dir sicher auf den letzten Weg wie beim Fronleichnamsfest als Václav dem Ersten Rosenblätter heuchlerischer Wörter streuen. Aber den Krieg mit Dir haben Sie bereits verloren. Dein Nachfolger auf der Prager Burg, Václav der Schwierige, konnte sich zwar als der interimistische Hausherr hochmütig erlauben, die Flagge der Europäischen Union demonstrativ nicht zu hissen, aber er schaffte es nicht, von der alten tschechischen Präsidentenflagge die Worte PRAVDA VÍTĚZÍ! (Wahrheit siegt:!) ausschneiden zu lassen
Ach, Vaclav,
wenn ich die zehn Personen betrachte, die bis jetzt in die Rolle des Staatspräsidenten des modernen tschechoslowakischen und des tschechischen Staates vom Regisseur Schicksal besetzt wurden, sehe ich keinen, der Dir einen gleichwertigen Dialog anbieten könnte, als den bereits genannten Thomas Garique Masaryk, in seiner Zeit genau wie Du bekämpft, um nach dem Tode langsam aber sicher zur Legende zu avancieren. Er brachte die verschwundenen „Länder der tschechischen Krone“ wieder auf die Karte Europas. Nach ihrem neuen Fall ins Nichtsein hast Du sie wieder sogar auf die Weltkarte gebracht.
Eine tolle Leistung, verehrter Maestro, ganz des berühmten Lobes wúrdig, der in Shakespeares Sommernachtstraum erklingt: Gut hast du gebrüllt, Löwe! Buhrufe ertrinken in Bravorufen, es werden ständige ´standing ovations´ folgen, liebster Konkurrent und Freund! Es war mir eine Freude, mit Dir unser bestes Kollektivwerk zu verfassen – die Charta 77. 

 

Pavel Kohout 22. 12. 2011
für DIE ZEIT zum Tod von Vaclav Havel

 

Auf zum Abgang!

Als er dreißig Lenze gefeiert hat, waren wir uns noch ziemlich fremd, obwohl sich bei meiner Verteidigung seiner Texte vor der Zensur gegenseitige Sympathien abzeichneten. Seinen Vierzigsten habe ich bereits als enger Freund in seinem Sommerhaus unter der Aufsicht der Staatssicherheit gefeiert. Zum Fünfzigsten habe ich zu ihm als unfreiwilliger Exilant in die ähnlich belagerte Wohnung an der Moldau aus Wien meine „späte Schwester“ und künftige Direktorin der Schwarzenbergischen Zentralkanzlei, Gerda Neudeck, mit einem Koffer voller Schweizer Käse geschickt. Den Sechziger feierte er in jenen Jahren, wo uns vorläufig seine Präsidentschaft trennte, zum Siebziger hat er in die entweihte und von seiner Stiftung großartig renovierte Sankt Anna-Kirche, jetzt Prager Kreuzung genannt, mindestens zwei Gäste pro Quadratmeter eingeladen; als wir von ihm nach hundert Minuten genau so entfernt waren, wie zuvor, verließen wir das Menschenmangeln und tranken ihm vom benachbarten Cafe Slavia gebührend zu. Bei meinem Achtzigsten in Brünn wusste er viel länger als ich auszuharren, und schöne Schauspielerinnen halfen ihm die  heimlich gerauchten Zigaretten zu verstecken. Und bei seinem Fünfundsiebzigsten im diesjährigen Oktober habe ich ihm nur auf Distanz zugewunken, ich wollte seine schwere Müdigkeit nicht noch mit einem ´small talk´ unnötig beschweren.
Als er jetzt gestorben ist und ich dazu geschrieben und gesagt habe, was mir am Herzen lag, haben wir uns zu Hause, derzeit in Wien, entschlossen, einem weiteren Drängeln im Prager Dom zu entkommen, indem wir zur selben Zeit bei einer langen Kerze und einem guten Wein in unserer Hochhaus-Garconiere seiner gedenken. Einen Tag zuvor bekamen wir jedoch vom geschätzten Bekannten ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte.
Wir kamen am Freitag, den dreiundzwanzigsten Dezember, um neun in der Früh zu Fuß vor sein Büro, wo er uns in seinen Wagen mitnahm. Wir haben das Glück gehabt, dass vor uns ein Polizeiwagen fuhr, der ebenfalls zum Flughafen zielte, und dass man uns dort durch ein Tor einließ, wo noch kein Reisender anstand, weswegen die Abfertigung entsprechend kurz war. Das Flugzeug bot zwölf  Ledersitze an, von denen ganze fünf unbesetzt blieben, und es war außerordentlich schnell: kaum haben wir die Flughöhe erreicht, wo die Getränke angeboten werden, ging es wieder zur Landung über, wir haben nicht einmal das Glas des erfrischenden Sauvignon Blanc aus der Steiermark ganz geleert. Dafür waren wir erneut vom Glück beschert, da sich direkt beim Flieger der österreichische Botschafter in Prag mit zwei Autos befand, wo es genau sieben freie Plätze gab. Er muss sich mit den tschechischen Polizisten gut gekannt haben, weil sie uns mithilfe von Sirene oft sogar auf Rot in einer Rekordzeit zu der Residenz durchgeschleust hatten.
Dort haben wir uns in zwei Gruppen geteilt. Unser geschätzte Bekannte schritt mit dem Botschafter zu der einen, wir wurden zu der anderen Seite der Kathedrale gelotst. Fast kämen wir uns dort wie auf einem Treffen der Charta 77 vor, wenn es hier nicht auch Karel Gott und weitere prominenten Signatare der Anticharta gegeben hätte, doch zwischen uns allen herrschte Ruh, welche den abgehenden Freund sicher freuen würde, weil seine spätere, damals noch sehr junge Frau, die Schmähschrift mitunterschrieben hat. Gleich neben uns wuchs eine Rotte hoch gewachsener Männer in schwarzen Anzügen und mit Ohrmuscheln an, die soeben ihre Klienten zu den VIP-Plätzen geführt und nun hier gewartet haben, um diese gleich nach der Messe eng zu umzingeln und in die Sicherheit ihrer Heimatländer zu befördern; unter ihnen erkannten wir auch zwei stumme Passagiere aus unserem Flugzeug.
Wir saßen zwar hinter einer mächtigen Säule, aber direkt vor einem großen Bildschirm, wo wir alles so gut gesehen haben, als wären wir bei uns in Wien geblieben. Die Werke Antonín Dvořáks hat meisterhaft die Tschechische Philharmonie mit dem Philharmonikerchor durchgeführt. Anwesende Katholiken wurden durch die reinigende Festmesse beseelt, vom höchsten Angebot der heimischen und italienischen Kirchenfürsten zelebriert, wir Andersgläubige und Ungläubige haben ein erhabenes geistliches Theater erlebt, das unser Freund liebte und das uns deswegen nicht unangesprochen belassen konnte. Im Geiste ließ ich mir dabei alle seine Stücke projizieren, vom „Gartenfest“ bis zum „Abgang“, und am Ende mit allen Anwesenden laut den uralten Choral „Ó, Du heiliger Václav“ gesungen.
Das jetzige Staatsoberhaupt würdigte jene Tugenden seines Vorgängers, die es bei sich selbst zu finden glaubt, der Fürst von Schwarzenberg hat ihm ganz fein außenministerisch erläutert, dass des Freundes Leitspruch „Wahrheit und Liebe besiegen Lüge und Hass“ nicht lächerlich gemacht werden darf, weil „Pravda vítězí! - Die Wahrheit siegt!“ sogar auf der Präsidentenflagge steht,  und die USA-Exaußenministerin Madeleine Albright sprach so echt tschechisch, als hieße sie noch immer Madlenka Korbelova. Enttäusch hat nur der Ex-Präsident Clinton, der nicht, wie bei seinem ersten Prager Besuch, Saxofon gespielt hat, weswegen ihn der Abgehende besonders mochte.
Die Luft in der Kathedrale blieb, dem Atem aus so vielen hunderten Lungen zum Trotzt, eiskalt, und ich war meinem Mantel dankbar, dass er ihr viel besser widerstand, als ich es von ihm gewöhnt war. Dann verließ der Freund zum letzen Male den Dom, in dem er das Te Deum nach seiner ersten Wahl erlebt hatte, und wir alle folgten ihm unter den Balkon, auf den er damals von Tausenden herausgeklatscht worden ist, und standen dort ohne Bewegung, bis seine schwarze Limousine um die Ecke abgebogen hat, von wo ihm standing ovations der letzten Zuschauer entgegenhallten. Da hat mich der österreichische Botschafter bereits gebeten, ihm samt den Schlüsseln von der Residenz auch seinen Mantel zurück zu geben, den ich dort für meinen verwechselt habe.
Danach hat er uns wieder mit Hilfe seiner befreundeten Prager Polizisten im starken Vorweihnachtsverkehr blitzschnell zum Jet durchgemogelt. Den steirischen Sauvignon Blanc konnten wir wieder nur verkosten, weil bald der Anflug an Wien begann, aber die gütige Stuardess hat uns die halbvolle Flasche als Probe ohne Wert mitgegeben. Im Wiener Abendverkehr, ohne Zeitdruck, wurden wir dann wie alle Normalsterbliche von Ampel zur Ampel chauffiert. Unsere Haustür haben wir nur sechs Stunden später geöffnet, nachdem wir sie geschlossen haben, und bedauerten allein, dass wir nicht einen fröhlicheren Ausflug machen durften als den, zu dem uns als Wegbegleiter des abgegangenen Freundes der österreichische Bundespräsident Heinz Fischer zu Begleitern erkoren hat.
Wir haben uns den rauhaarigen Barbar zurückgeholt, der alles bei seinen Wiener Bewunderern zu gern überstanden hat, zündeten die vorbereitete Kerze an und tranken sowohl die erhaltene als auch die gekaufte Flasche aus. Dabei fand ich in der mitgebrachten tschechischen Zeitung meine Antwort auf die Frage, wie wohl der Freund sein eigenes Begräbnis beschrieben hätte: „Das sind doch Parradoxen, fürr die Boulevarrd-Rredakteurre und fürr meine Widerrsacherr warr mein Abgang vielmehrr ihrr Garrtenfest.“
Soeben endet das Jahr, in dem unsere einstige Rundverteidigung um den ersten Außenminister Jiří Dienstbier, um den Shoah-Schriftsteller Arnošt Lustig, um den wilden Underground-Dichter Ivan Jirous, sowie um die Multitalente Jiří Gruša und Václav Havel geschwächt wurde. Nach solch gravierenden Verlusten sucht sich schwer eine gute Nachricht für 2012, und doch – es gibt sie. Wer den Weltsport verfolgt, der weiß, welch eine Patt-Situation in der Königswaage des Boxings entstanden ist, weil alle höchsten Titel unter zwei ukrainische Brüder verteilt wurden – Vitali und Wladimir. Die übliche Schlacht um die Krone des Superfighters unseres Planeten wird diesmal nicht stattfinden aus Gründen, die ebenso berühren wie erfreuen:
Mamma Klitschko hat den beiden bereits als Jungen streng verboten, miteinander zu raufen.  

 

Pavel Kohout 29. 12. 2011
für DIE ZEIT zum Begräbnis von Vaclav Havel

 

Fifi

Von dem ostböhmischen Pardubice aus absolvierte er als fröhlicher Dichter eine Odyssee über Prag zur mutigen Nichtexistenz in der Dissidentenbewegung bis in die perfekt ausgewählte Herumtrudelei des ungewollten Exils, war danach Havels Gesandter in Deutschland und in Österreich, unter Klaus Minister für Bildung, Direktor der von Maria Theresia persönlich gegründeten Wiener Diplomatischen Akademie, Ritter der Ehrenlegion, Träger Dutzender Orden und dabei auch Übersetzer von Schillers Wallenstein, Autor tschechisch und deutsch geschriebener preisgekrönter Gedichte und Romane, der dann noch unzählige Male wie ein Satellit als zweimal bestätigter Präsident des internationalen PEN-Klubs um den Erdball kreiste – und plötzlich, kurz nach dem Ende dieses wunderbaren Feuerwerks, zum ersten Male still und untätig im kleinen deutschen Städtchen Bad Oeynhausen, wo sein Herz - Sorry, es reicht! gesagt hat.
Nur wenige Tschechen waren Weltbürger wie er, und wahrscheinlich gab es keinen Weltbürger, der wie er Tscheche gewesen wäre. Aus dem Tschechentum hatte er sich nämlich nur das Beste herausgepickt, und die schlimmen Anspülungen, die ihm aus der Zeit fremder Okkupation und nationaler Selbstschande anhafteten, zersetzte er mit seinen Texten wie mit Säure. Er war einer der führenden Geister des geschichtlichen Ausgleichs mit Deutschland, der in einer gemeinsamen Erklärung gipfelte, er war das Schreckgespenst jener militanten Vertreter der sudetendeutschen Landsmannschaften, für die die Geschichte erst mit ihrer eigenenVertreibung beginnt, aber auch der tschechischen Pseudopatrioten, die auch die Morde an deutschen Zivilisten nach dem zweiten Weltkrieg für Widerstand ausgaben. Ehre gibt es von allen Seiten so viel, dass droht, man könne ihn in Bronze gießen. Doch er war auch ein entzückender Mensch!
Das Wort entzückend scheint so ganz und gar nicht zu einem Mann zu passen, der gerade dabei ist, zur Legende zu werden. Doch hatte er bei all diesen außerordentlichen Leistungen eine ganze Reihe menschlicher Schwächen, die es ihm nicht erlaubten, sich über etwas weniger begabte Menschen zu erheben. Er war unglaublich ungeschickt, über alle Maßen vergesslich, sehr unpraktisch, Gott allein weiß, wie er es geschafft hat, dass ihn nie jemand verwirrte oder betrog. Er war ein nicht praktizierender, jedoch stark gläubiger Katholik, der immer sehr ausgewogen Buße tat und sündigte.
Bei Václav Havel in dessen Hrádeček erhielt er in der Zeit des Totalitarismus seinen ständigen Spitznamen. Die Silvestergäste spielten zur Schallplattenmusik die Verkaufte Braut, und weil er nicht singen konnte, erhielt er die Rolle eines Hündchens. Seit jener Zeit also war er für Eingeweihte nur Fifi.
Als die Charta 77 unterzeichnet wurde, gehörte er zu den wenigen, die zur Überraschung der Staatssicherheit im Verzeichnis fehlten; sie ahnte nicht, dass diese darum gebeten worden waren; indem sie nicht so auffielen, wurden sie zu lebenswichtigen Absendern und Empfängern von Nachrichten für die anderen. Als jedoch vor Breshnews Ankunft in Prag auch er ins Gefängnis nach Ruzyně kam, meldete er seine Unterschrift nachträglich direkt in der Höhle des Löwen per Gefängnistelefon Kloschüssel.
Er war der erste Schriftsteller, den das System wegen seiner Literatur hinter Gitter stecken wollte. Nur wegen der Gutachten, um die die Charta die damaligen Giganten der Literatur Heinrich Böll und Siegfried Lenz ersuchte, dass Der Fragebogen kein gegen das System gerichtetes Pamphlet, sondern ein bedeutender Roman von europäischem Format sei, blies die Husák´sche Justiz den Prozess ab, nachdem sie begriffen hatte, dass ihr eine himmelschreiende Schande drohte.     
  Auch er ging nicht ins Exil, sondern wurde zu einem einjährigen Aufenthalt in die USA entlassen, da man zeigen musste, dass die ČSSR zumindest manchmal die Bürgerrechte achtete, wozu sie sich in Helsinki verpflichtet hatte. Auf der Rückreise vergaß er in Hamburg in einer Telefonzelle all sein Geld und seine Papiere. Er bekam dann schon deutsche Dokumente, weil man ihm in Prag die Staatsbürgerschaft aberkannt hatte. Er schrieb eine einzigartige Fibel der tschechischen Sprache für die tschechische Schule in Wien, die diese jedoch aus Angst vor der Strafe aus Prag ablehnte. Später nahm er an den Protesten vor der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn teil, die er wenig später auf Wunsch des neuen Präsidenten übernahm. Der dortige  Vorsitzende der Kommunisten wurde dann im Außenministerium Chef der Abteilung, die ihm als Botschafter in Wien ständige Kontrollen bescherte. Sein neues Handwerk lernte er schnell und perfekt. All seinen Freunden war er dadurch in Erinnerung geblieben, dass er aus ihren Autos ausstieg und ging, ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen. Das durfte er in seiner Rolle als Exzellenz dreizehn Jahre lang nicht.
  Als Fachmann für die deutsche Frage kandidierte er in Cheb/Eger als Senator. Seine Aktien standen sehr gut, solange er nicht eine Abordnung von Geschäftsleuten der Stadt empfangen hatte, die sich über die Konkurrenz von Fremden beschwerten. Er zeigte ihnen vom Rathaus aus den Marktplatz, wo die tschechischen Stände im Platzregen geschlossen waren und nur die Vietnamesen verkauften, und riet ihnen, es ihnen gleichzutun. Als Feind der tschechischen Sache wurde er nicht gewählt.
Der kleingewachsene Mann war bei all seiner Stärke ein großes Kind, das in einer Frau namens Sabine eine Stütze fand. Die Leiterin der Bibliothek in Bonn entschied eigentlich für ihn, dass er sie heiratete, und er vertraute ihr all seine Schwächen an. Sie wusste wirklich besser als er selbst, was er im Restaurant zu bestellen hatte, und sie erkannte früher als er, dass er krank war. Sie war seine Frau, Mutter und sein ständiges Sekretariat. Sie war auch am Ende dieses überwältigenden Feuerwerks dabei.
  Jiří Gruša, der ewige Demokrat und trotz allem ein treuer Freund ehemaliger Kommunisten, wenn er zu ihnen Vertrauen fasste, wird in der Geschichte und in seinem Werk weiter strahlen. 

 

Pavel Kohout, 28.10.2011
für Mlada fronta DNES zum Tod von Jiri Grusa